Das Winterfenster

          Stefan und ich. Mit dem Kauf des alten Bauernhauses hatten wir einen unserer größten Wünsche verwirklicht. Wir waren beide nicht mehr ganz jung, doch fest entschlossen, noch ein weites Stück  gemeinsam zu gehen. Und wir freuten uns darauf. 

Leider war es schon tiefer Herbst, als endlich der Kaufvertrag für das Haus unterschrieben war. Wir ließen von den Handwerkern eine moderne Heizung einbauen und das Badezimmer sanieren, doch dann hielt uns nichts mehr davon ab, in unserem neuen Zuhause zu übernachten. Alle weiteren Arbeiten mussten bis zum nächsten Frühling warten. Während Stefan gleich wieder arbeiten ging, hatte ich noch zwei lange Urlaubswochen vor mir, in denen ich das Haus Schritt für Schritt in Besitz nehmen konnte.

Wir hatten bisher nur die Küche, das Bad und das Schlafzimmer wohnlich hergerichtet. Der noch verbleibende Raum im Erdgeschoss war vollgestellt mit altem Gerümpel und verriet in keinster Weise, dass er bald Schauplatz von gemütlichen Abenden mit knisterndem Kaminfeuer sein würde. Doch barg der Raum auch noch ein anderes Geheimnis. Ein düsteres. Wir hatten das Anwesen zu einem sehr günstigen Preis bekommen, andernfalls hätten wir es uns nie leisten können. Der Makler hatte es nur beiläufig bei der Besichtigung erwähnt, doch im Dorfwirtshaus, wo Stefan und ich später zu Mittag aßen, erfuhren wir ungewollt die ganze Geschichte. Der Bauernhof hatte in der Vergangenheit noch niemandem Glück gebracht. Die letzten Eigentümer wurden  im Frühjahr dieses Jahres vom Postboten tot aufgefunden. Der Mann lag erstochen im Bett, und die Frau hatte sich in eben diesem Zimmer erhängt. Auch die Familie davor war nicht sehr lange in dem Haus gewesen. Und noch früher war es lange Jahre leer gestanden. Gerade als die Wirtin ausholte und anfing Einzelheiten zu erzählen, zahlten wir eilends und verließen etwas überstürzt den Gasthof. Wir wollten es einfach nicht hören. Wir würden allen zeigen, dass es ein gutes Haus war, in dem es sich glücklich leben ließ. Und wir kauften es dann ja auch, ohne das Thema nochmals angeschnitten zu haben.

Nach der ersten Nacht in unserem Heim und einem gemeinsamen ausgedehnten Frühstück füllte ich den Putzeimer mit Seifenlauge, streifte die Gummihandschuhe über und öffnete die Tür zum künftigen Wohnzimmer. Hinter mir schnüffelte neugierig  Max, unser Wolfshund, er verzog sich aber gleich wieder in die warme Küche. Das Wohnzimmer besaß zwei große Fenster und wie es in alten Häusern üblich war, setzte man in der kalten Jahreszeit die sogenannten Winterfenster ein. Während das eine Fenster wahrscheinlich noch vom letzten Winter  befestigt war, lehnte das zweite Fenster an der Wand. Es war ziemlich verdreckt, voller Spinnweben und Staub. Ein rostiges Beil lag wie vergessen am Boden. Ich hatte mir für heute vorgenommen, das Glas zu putzen und dieses Winterfenster einzusetzen. So würde die Sonne besser in den Raum kommen und es wäre auch mehr Platz. Ich kniete mich also hin, tauchte den Schwamm ins Wasser, drückte ihn aus und fing an, den Rahmen zu säubern. Als er einigermaßen sauber war, hatte das Wasser einen deutlich grauschwarzen Farbton angenommen, doch entschloss ich mich, auch noch das Fensterglas einer ersten Reinigung zu unterziehen, bevor ich das Wasser wechselte. 

Ich summte vor mich hin, tunkte den Schwamm ein, drückte ihn wieder aus und fuhr systematisch Bahn für Bahn von oben nach unten. Ich war so vertieft, dass ich die Veränderung erst gar nicht bemerkte. Hinter dem Schmutz kam das klare Glas zum Vorschein. Es war eine Fensterscheibe und irgendwie doch keine. Eher ein verschwommenes, sich bewegendes Bild. Ein lebendiges Bild. Wie ein Film. Ich hielt inne und starrte. Jeder hätte gestarrt. Hinter mir hörte ich Max ins Zimmer kommen und jaulend wieder kehrt machen. Unbeweglich saß ich da. Und starrte. Ich sah ihn. Stefan. Und sie. Sie irgendwer. Blond. Hübsch. Jung. Ich sah, ja, es war wohl ein Hotelzimmer, sah sie auf dem Bett, zusammen, ihre Begierde, ihre Leidenschaft, sah Stefan, der mich offensichtlich betrog, sah einen Stefan, den ich so nicht kannte, dem ich keinesfalls wieder vertrauen würde, der mir heute morgen noch gesagt hatte, dass er so glücklich wie noch nie in seinem Leben war. Ich starrte und fühlte einen Klumpen in meiner Brust wachsen, spürte schon den einsetzenden Verlust, das Wissen, ausgenutzt worden zu sein und den absoluten Willen zur Rache, zur Vergeltung, riss mir die Handschuhe von den Händen, taumelte ins Bad, übergab mich und fiel auf mein Bett im Schlafzimmer. Ruhe. Dann Schwärze. Ruhe.

Gegen Abend kam ich wieder zu mir. Und das erste, was ich klar spürte, war der Drang zum Winterfenster zu gehen. Ich erhob mich. Max, der neben meinem Bett auf dem Boden lag, hob langsam den Kopf und betrachtete mich. Stefan war noch nicht zurück. War das vorhin Einbildung? War ich überarbeitet? Vorsichtig öffnete ich die Tür zum Wohnzimmer. Bevor ich meinen Blick auf die Scheibe richtete, schaute ich nach oben. An der Decke hing noch der Haken. Hier hatte man die Frau tot aufgefunden. In diesem Zimmer. Neben dem Winterfenster. Ich ging tiefer in den Raum hinein. Nichts. Ein Fenster. Ein Winterfenster. Von früher. Der weiße Lack spröde und an vielen Stellen gerissen. Einbildung. Nur eine Einbildung. Ich bückte mich und entfernte eine tote Fliege, die an der Scheibe klebte. Und in diesem Augenblick der Berührung erfasste es mich wieder. Magisch. Auf keinen Fall ein Fenster. Es fing an sich zu wellen, zu wabern, Bilder zu erzeugen, Farben, ich sah Stefan und diese Frau, in unserem Haus, lachen, am Kamin sitzen, lesen, sich liebkosen. Ich spürte wieder  diese absolute Gewissheit, dass ich nicht mehr in diesem Haus lebte, dass ich irgendwo verletzt untergekrochen war. Zutiefst verletzt. Und alles in mir schrie. So weit werde ich es nicht kommen lassen. Und ich sah das Beil neben dem Fenster lehnen und im Fenster spiegelte sich bereits das Beil wie es auf Stefan einschlug, auf ihn, der mein Vertrauen missbraucht und mich gekränkt hatte. Dann klingelte es dreimal beharrlich an der Haustür und ich schreckte hoch. Blanke Winterfensterscheibe. Beil in meiner Hand. Bin ich verrückt?

Ich ging zur Haustür und öffnete Stefan, der seinen Haustürschlüssel vergessen hatte. Liebevoll küsste er mich. Ich verschloss das Wohnzimmer und wir kochten gemeinsam unser Abendessen. Ich belauerte ihn. Ihm war nichts anzumerken. Nicht ein bisschen. Er war unbeschwert und fragte mich nach meinem Tag. Ich erzählte ihm von dem Winterfenster, und dass ich es nicht geschafft hatte, es komplett zu säubern und einzusetzen. Ach ja, macht ja nichts, es liegen noch so viele Tage vor uns.

Am anderen Morgen hatte ich einen Termin beim Notar, der sich nicht verschieben ließ. Meine Gedanken kreisten. Nur um das Eine. Das Winterfenster. Stefan verabschiedete sich mit einem Kuss und erzählte mir beiläufig von einem zweitägigen Seminar in Berlin am übernächsten Tag. Das Winterfenster. Und, dass er mich deswegen eine Nacht alleine lassen müsste. Das Winterfenster. Ich lächelte. Das Winterfenster. Verständnisvoll. Das Winterfenster. Und, dass er dafür heute nur kurz ins Labor schauen würde und dann den restlichen Tag zu Hause wäre.

Gegen Mittag kam ich endlich zurück, und als ich die Haustüre öffnete, duftete es schon im ganzen Haus nach Spaghetti mit Tomatensoße. Er umarmte mich. Der Tisch war gedeckt und der Topf dampfte. Er bediente mich und ich schob mir den ersten Bissen in den Mund. Ich kaute und schluckte und nippte von dem Wein. Stefan erzählte. Ich nahm den zweiten Bissen, kaute mechanisch, und hörte das Wort Winterfenster. Winterfenster. Er hatte heute Morgen versucht, das Winterfenster einzusetzen. Ich schluckte. Aber es ging nicht. Meine Spucke war dickflüssig und in meinen Ohren fing das Blut an zu pulsieren und laut zu stampfen. Mir wurde übel. Winterfenster. Was hatte das Winterfenster Stefan wohl gezeigt, als er versucht hatte, es einzusetzen? Welche Horrorbilder hatte er gesehen? Ich griff nach dem Wasserglas und stieß es um. Winterfenster. Mit der Hand hielt ich mich an der Tischkante fest. Hatte er mir etwas ins Essen gemischt? Weil das Winterfenster ihm schreckliche Bilder gezeigt hatte? Hatte er mich gesehen, wie ich ihn in einem Hotelzimmer mit einem anderen Mann betrüge, wie ich in diesem Haus ohne ihn wohne? Hat er dann kompromisslos seine Entscheidung gefällt?

Alles begann sich zu drehen. Und dann dieser Lärm  in meinen Ohren. Ich sah Stefan, wie er mit mir sprach, wie sich sein Mund bewegte, doch ich hörte ihn nicht. Warum tust du mir das an, wollte ich sagen. Wir lieben uns doch. Ich brachte keinen Ton heraus. Dann die Erlösung. Dunkelheit. Filmriss.

Ich erwachte in meinem Bett. Stefan saß auf einem Stuhl neben mir und hielt mir die Hand. Stefan. Ich hob den Kopf. Er schlief, schreckte aber hoch, als er meine Bewegung wahrnahm. Er tätschelte liebevoll meine Hand. Na, was ist. Alles wieder gut. Anscheinend bin ich doch kein so guter Koch. Sachtes Lächeln. Und dann erzählte Stefan von seinem Malheur vom Vormittag. Ich hatte ihm ja erzählt, dass ich das Winterfenster noch nicht fertig geputzt hatte und es nicht eingehängt war. Und weil er früh nach Hause gekommen sei, hatte er vor, mir diese Arbeit abnehmen. Genau in dem Moment aber, als er mit dem Schwamm über die Fensterscheibe wischen wollte, hatte der Postbote geläutet und er war zur Haustüre gegangen. Während er an der Tür war, musste Max in das Zimmer gekommen sein und dort eine Maus oder vielleicht sogar eine Ratte entdeckt und gejagt haben. Auf jeden Fall hatte er von der Haustüre aus ein Kläffen, Scharren und Jaulen gehört.  Dann ein Klirren. Als er ins Zimmer gestürzt war, lag das Winterfenster umgestürzt am Boden, alles war voller Scherben und Max war wie von Sinnen und hatte sich verängstigt mit eingeklemmtem Schwanz in eine Ecke gedrückt.

Stefan hatte dann die Scherben zusammengekehrt und sie in den Container geworfen, der, bevor ich eintraf, von der Müllfirma abgeholt worden war. Den Glaser hatte er auch schon angerufen. Er würde am nächsten Morgen kommen und eine neue Scheibe einsetzen. Das alles hätte er mir bereits beim Mittagessen gesagt, aber wahrscheinlich würde ich mich nicht mehr daran erinnern.

Ich schaute ihn an. Und legte seine Hand an mein Gesicht. Danke, sagte ich. Für die kaputte Scheibe, fragte er. Ich zwinkerte eine Träne weg und strich mit der anderen Hand über das raue Fell von Max. Kein Winterfenster mehr. Nur Stefan und ich.




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