Der Mondkalender war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Vor einigen Jahren hatte sie langsam begonnen, ihn im täglichen Leben anzuwenden, und jetzt konnte sie es sich nicht mehr vorstellen, die Wochentage ohne seine Hilfe zu verplanen. Die immerwährende Frage, die sich bei jeder Tätigkeit stellte, lautete: „Wann ist der richtige Zeitpunkt dafür?“
Da sie einen großen Garten hatte, war es nur natürlich, den Mondkalender zu Rate zu ziehen; beim Säen und Setzen der Pflanzen, bei der Unkrautbekämpfung, beim Hecken- und Baumschnitt; ja sogar beim Ernten, Lagern und Konservieren war es notwendig zu wissen, welche Tage am besten geeignet waren, um ein optimales Ergebnis zu erhalten. Ihren Bruder, der eine Landwirtschaft betrieb, hatte sie auch schon versucht zu überzeugen und ihn ausführlich die Regeln des richtigen Zeitpunkts für das Holzschlagen erklärt. Er war aber eher skeptisch und seine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie dagegen wandte den Mondkalender ohne Vorbehalte auch im Haushalt und im Alltag an. Warum sollte man den Mond nicht als Helfer ansehen? Waschen, Putzen, Reinigen, Lüften, Körperpflege, alles konnte mit der Wahl des rechten Zeitpunkts und dem Wissen um die Mondrhythmen positiv beeinflusst werden.
Zugegebenermaßen erforderte das einen ziemlichen Aufwand. Es war beispielsweise nicht ratsam, morgens aus dem Fenster zu sehen und sich dann spontan zu entscheiden, Radieschen zu säen. Nein, die Überlegung, die man zuerst anstellen musste war: Ist es Gemüse, das oberirdisch wächst oder unter der Erde? Falls es unter der Erde wächst gedeiht es gut, wenn auf dem abnehmenden Mond als Sä- oder Pflanztag geachtet wird. Dann ein schneller Blick auf den Kalender werfen und das richtige Sternzeichen heraussuchen, nämlich für Radieschen einen „Wurzeltag“, also Jungfrau, Stier und Steinbock. Und schon hatte man eine Antwort auf die Frage, ob es Sinn hatte, an eben diesem Sonnentag Radieschen zu säen. Wie gesagt, es war nicht immer ganz einfach, aber nach mehreren Jahren Routine hatte sie den Mond und seine Phasen einigermaßen im Griff.
Erst gestern hatte sie wieder einmal ihren Mondratgeber durchgeblättert auf der Suche nach einem günstigen Fensterputztag. Als sie die maßgebliche Stelle nicht auf Anhieb fand, suchte sie im Inhaltsverzeichnis nach. Beim Überfliegen der Überschriften fiel ihr plötzlich ganz deutlich auf, dass in diesem Buch etwas sehr Wesentliches fehlte: Der Autor versuchte, den günstigsten Termin für alle Arten von Arbeiten zu finden, er gab dagegen keinerlei Hinweis darauf, was der ideale Zeitpunkt war, z.B. mit den Freundinnen ins Kino zu fahren, sich auf einen ausgedehnten Kaffeeratsch zu treffen, abends eine Buchvorstellung zu besuchen, die Eisdiele heimzusuchen oder ein Frauenwochenende zu organisieren. Kurz gesagt, das Buch deckte nur eine Seite des Lebens ab, die des Arbeitens, die andere Seite (und die gab es ja auch noch!) wurde nicht einmal am Rande erwähnt. Was fehlte, war sozusagen ein Wellness-Mondkalender.
Diese plötzliche Einsicht brachte sie auf die Idee, ein Buch über eben dieses Thema zu schreiben. Innerhalb weniger Tage hatte sie einen Arbeitsplan für die nächsten sechs Monate entworfen und ihre Freundinnen eingeweiht, die allesamt als Versuchspersonen herhalten mussten. Für jede Woche wurde ein „Veranstaltungstermin“ festgelegt, der eindeutig der Rubrik „Wohltat für die Seele“ zugeordnet werden konnte. Und pro Treffen musste jede von ihnen einen Beurteilungsbogen auszufüllen, bei dem es um die Einschätzung der einzelnen Zusammenkünfte ging: Auf einer Skala von 1-10 sollte angekreuzt werden, wie positiv die Wohltat empfunden wurde, wie lange sie nachgewirkt hatte, wie groß die Vorfreude war, usw. So sollte das jeweilige „Event“ scharf eingegrenzt und gewertet werden.
Die folgenden sechs Monate vergingen wie im Flug, Woche um Woche wurde abgehakt und die Beurteilungsbögen füllten sich. Dann war es soweit und sie sammelte beim letzten anberaumten Treffen (es war ein gemeinsames Frühstück, das sich als Brunch über drei Stunden hinzog) sämtliche Fragebögen wieder ein, um diese endlich auszuwerten. Am nächsten Tag verbarrikadierte sie sich in ihrem Arbeits-Bügel-Hobby-Zimmer und legte die Bögen vor sich auf. Systematisch wurden nacheinander die verschiedenen Treffen ausgewertet; sie erstellte Kurvendiagramme und Tabellen, errechnete Prozentwerte, entwarf Schaubilder, hinterlegte die Ergebnisse mit der zum jeweiligen Ereignis herrschenden Mondphase, ging dann über zur Korrelationsanalyse, dann zu den Mittelwertsvergleichen und betrachtete schließlich das Ergebnis. Es war unglaublich.
Um nicht irgendeinen dummen Anfängerfehler zu machen, rechnete sie nochmals alles durch und erstellte eine Varianzanalyse der Rohdaten. Wieder erhielt sie das gleiche Ergebnis. Es bestand kein Zweifel mehr an dessen Richtigkeit. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und ließ die sechs Monate nochmals vorüberziehen. Alle Wohlfühl-Treffen waren bunt gemischt, Termine zu Neumond, bei zunehmendem Mond, Vollmond, bei abnehmendem Mond, aufsteigendem Mond, absteigendem Mond, mit verschiedenen Tierkreiszeichen, alles war abgedeckt. Und dennoch. Unglaublich.
Sechs Monate hatten sie mit vollem persönlichen Einsatz gestestet und bewertet und waren unabhängig voneinander zu dem eindeutigen Ergebnis gekommen, dass Wohlfühltermine, ganz egal wann sie angesetzt werden, immer ein maximal gutes Ergebnis haben. Sie steigern schon Tage vorher das Wohlbefinden durch die Vorfreude und noch lange Zeit wirken sie nach, wenn uns schon längst der Alltag wieder fest im Griff hat. Aber um dies der Welt zu verkünden, würde sie kein Buch darüber schreiben müssen. Diese Information würde in einem einzigen Satz Platz finden.
Schon am nächsten Tag war ein Treffen anberaumt, bei dem sie ihren Freundinnen das Ergebnis mitteilen wollte. Und als sie schließlich in gemütlicher Runde bei einem Kaffee im Garten saßen, gab sie ihnen das Resultat bekannt und informierte sie im gleichen Atemzug, dass das Experiment damit leider beendet sei. Etwas betreten und außergewöhnlich still saßen sie um den Tisch herum und schwiegen. Es war aber wohl nicht so sehr das Ergebnis der Studie, das ihnen nahe ging, sondern eher die Tatsache, dass jetzt die wöchentlichen Treffen mit Kino- und Eisdielenbesuchen, Kaffeeratsch und Buchvorstellung plötzlich zu Ende sein sollten.
Irgendwie schmeckte da auch der Kaffee nicht mehr so richtig. Nach einer weiteren Runde des Schweigens war jedoch ein Räuspern zu hören und eine von ihnen wandte ein: „Also ich weiß nicht, glaubt ihr, dass eine sechsmonatige Testphase lang genug ist um ein Buch über dieses doch sehr komplexe Thema zu schreiben?“ Und plötzlich äußerten alle ernsthafte Zweifel am Ergebnis der „Studie“ und man schlug vor, das Experiment um mindestens ein weiteres halbes Jahr zu verlängern mit dem Ziel, mehr Langzeitdaten zur Verfügung zu haben und die Untersuchungsresultate zu untermauern. Diese Anregung wurde dann auch sofort und ohne eine einzige Gegenstimme angenommen; ja, man wollte sich noch einmal selbstlos als Versuchsperson zur Verfügung stellen, wenn es denn der Wissenschaft diente und diese weiter brachte.
Was, Sie haben noch nichts gehört von dem neuen Buch, das in Kürze erscheinen soll „Der richtige Zeitpunkt – Wohlfühltermine“? Na dann schätze ich, dass die Frauengruppe, die es veröffentlichen wollte, nach wie vor nicht genügend Daten gesammelt hat und die Testphase um weitere sechs, oder zwölf oder wer weiß wie viele Monate verlängert werden musste. Wissenschaftliches Arbeiten erfordert eben viel persönlichen Einsatz, Selbstdisziplin und ein großes Stück Aufopferung!