Sinneserlebnis-TV

Vor nicht einmal zwei Wochen fiel meinem Mann beim Durchblättern der Samstagsausgabe unserer Tageszeitung folgende unscheinbare Anzeige auf: „Testfamilie für unser neu entwickeltes TV-System gesucht. Bewerbung bitte bei TV-Sensation unter nachfolgender Adresse…“ Das klang ja wirklich hochinteressant.

In der Vergangenheit hatten wir uns schon viele Male auf solche Anzeigen hin beworben, jedoch leider ohne den erhofften Erfolg. Wir boten uns beispielsweise als Testfamilie Windeln, Testfamilie Urlaub und sogar als Testfamilie Sport an, nur aus dem verzweifelten Wunsch heraus, endlich Testfamilie für irgendein Produkt zu werden. Nun also starteten wir einen letzten Versuch. 

Wir, das heißt mein Mann, ich und unsere beiden Kinder, wurden auf Herz und Nieren geprüft, gecastet und – für uns einfach unfassbar – ausgewählt, das neue Sinneserlebnis-TV zu testen. Schon gestern Nachmittag erfolgte die Lieferung des Überraschungs-Fernsehgerätes, einem wahren Monstrum von Maschine, das wir nun vier Wochen lang ausprobieren und nach allen Regeln der Kunst durchchecken sollten. Drei Fachleute waren einen ganzen Tag lang damit beschäftigt alles richtig einzustellen, uns Bedienungsanweisungen zu geben und somit Sinneserlebnis-TV-fähig zu machen. 

Das Experiment sollte vier Wochen dauern: Nicht nur hören und sehen, nein, und das war der Knüller, auch die Sinne, wie z.B. der Geruchssinn sollten angesprochen werden. Eine hochmoderne futuristische Sinneserlebnis-Fernsehlandschaft befand sich jetzt in unserem kleinen Wohnzimmer. 

Gegen acht Uhr abends versammelten wir uns vor dem Fernseher, falls das Gerät überhaupt mit so einem einfachen Namen bezeichnet werden durfte. Der Nachrichtensprecher erschien auf dem Bildschirm in Anzug und Krawatte. Mmh, der hatte ja wirklich ein tolles Rasierwasser! In unserem kleinen Wohnzimmer breitete sich eine Parfumwelle aus, die mich begeisterte, meinen Mann und die Kinder jedoch leider weniger, so dass sie einfach umschalteten. Dort lief gerade ein Werbespot, in dem sich eine knapp gekleidete junge Frau an einer Cola und einer Riesentüte Popcorn labte. Kennen Sie das Aroma von frischem Popcorn und das Gefühl, das der Anblick einer eisgekühlten Cola an einem schwül heißen Tag hervorruft? Unsere beiden Kinder liefen wie auf Kommando in die Küche, um sich etwas zum Trinken (vielleicht eisgekühlte Cola) und zum Essen (bestimmt keinen Apfel oder eine gesunde Karotte) zu holen. Der nächste Werbespot betraf ein hypermodernes Automodell und der Duft vom neuen Leder der Autositze benebelte die Sinne meines Mannes, der vor sich hinmurmelte: „Unser Auto wird es wohl nicht mehr lange machen. Bald brauchen wir ein Neues“. Ich war von der Qualität unseres hypermodernen Fernsehers nicht restlos überzeugt und ging ins Bett, während der Rest meiner Familie von unserer Neuanschaffung begeistert war und sich noch einige Zeit berieseln lassen wollte. 

Am nächsten Tag, gegen sieben Uhr abends, trafen wir uns wieder vor dem Gerät. Ich beabsichtigte, auf jeden Fall erst einmal die Kochsendung „Strumpfböck kocht“ anzusehen und setzte mich mit meinem Wunsch gegen den erbitterten Widerstand meiner Familie durch. Leider war anscheinend im Kochstudio kurz vor Sendungsbeginn etwas schief gegangen, denn unser Wohnzimmer füllte sich alsbald mit Rauchschwaden: Es roch penetrant nach verkohltem Ingwer mit einem Hauch Chilisalz. Auf dem Bildschirm selber war jedoch ein lächelnder Herr Strumpfböck bei der Zubereitung eines Filets vom Angusrind auf Spinat-Käse-Bett zu sehen. Als selbst mir die Augen anfingen zu tränen, ergriff meine Tochter die günstige Gelegenheit und schaltete schnell um. Ah, ja, ein Krimi, und zwar einer der alten Art, ein Columbo mit Peter Falk. Leider konnten wir auch diesen Film nicht zu Ende sehen, weil nach der dritten Zigarre des Kommissars unser Wohnzimmer so von Rauch durchsetzt war, dass wir kaum noch den Weg zum Fenster fanden, um durchzulüften. Also wurde wieder der Sender gewechselt und dieses Mal wollten die Herren der Schöpfung auswählen. Wo landeten wir? Natürlich beim Sport. Weil gerade Halbzeit war, gab es ein live-Interview direkt aus der Mannschaftskabine mit fünfzehn schwitzenden Fußballern als Hauptdarsteller. Ich hielt mir ein Handtuch vor die Nase, harrte aber tapfer bis zum Ende des Interviews aus. Meiner Tochter war die Geruchsbelästigung aber zuviel und sie flüchtete ins Bett. Unbeeindruckt von der schweißgeschwängerten Raumluft verfolgten meine beiden Männer das Interview, schauten dann noch die zweite Halbzeit an und gingen hinterher ebenfalls zufrieden schlafen. Ihre Lieblingsmannschaft hatte gewonnen. 

Und ich? Ich hatte bisher noch überhaupt keine Vorteile des Sinnes-TV feststellen können. Nein, ich wollte aufbleiben und den Abend mit einem positives Erlebnis abschließen. Beim Durchstöbern der Fernsehzeitschrift sah ich, dass schon seit zwei Stunden „Untergang der Titanic“ lief. Den Rest würde ich mir jetzt anschauen und dann ins Bett gehen. Also schaltete ich schnell um und da befand ich mich auch schon mitten in der Katastrophe: Die Titanic hatte den Eisberg gerade gerammt und es gab Wassereinbrüche an mehreren Stellen. In dem Moment als ich es mir richtig auf meinem Fernsehsessel bequem gemacht hatte, bemerkte ich auf dem Fußboden unter der Fernsehstation eine unscheinbare kleine Pfütze, die sich aber zusehends vergrößerte. Beunruhigt verließ ich schnell meinen Sitzplatz und holte Eimer und Lappen. 

Woher…nein das konnte doch nicht sein! Ich tauchte den Zeigefinger kurz in die Flüssigkeit und leckte mit meiner Zunge daran: Die Vermutung wurde zur Gewissheit: Es handelte sich zweifelsohne um Salzwasser, um Meerwasser, um… halt, ich kam mit dem Wischen nicht mehr nach, lief mit dem vollen Eimer in die Küche, kippte das Wasser, das mit Tang durchsetzt war, ins Spülbecken und raste wieder zurück. Während meiner kurzen Abwesenheit hatte der Wassereinbruch noch zugenommen. Fieberhaft tunkte ich weiter. Warum half mir denn keiner? Halt, was war denn jetzt los, da bewegte sich doch etwas auf dem Fußboden, nein, doch, ein klitzekleiner Stachelrochen! Entsetzt starrte ich auf den Bildschirm, wo sich die Titanic gerade anschickte, in den Fluten des Atlantiks zu versinken und dann auf das aus dem Fernseher strömende Salzwasser, welches mir soeben einen zweiten kleinen Meeresbewohner vor die Füße spülte. Erst das von den Passagieren der Titanic angestimmte Lied „Näher mein Gott zu dir“ weckte mich aus meinem tranceartigen Zustand: Ich drehte mich mit einem suchenden Blick zum Wohnzimmertisch um, ergriff die Fernbedienung und schaltete den Fernsehapparat aus. 

Den nächsten Vormittag verbrachte ich damit, den durchdringenden Geruch von Verbranntem, Schweiß und Rauch aus dem Wohnzimmer herauszubekommen und den Teppichboden zu trocknen. Als man den Raum wieder einigermaßen betreten konnte, rief ich kurzerhand die Firma an, die uns das Gerät zur Verfügung gestellt hatte, und bestand darauf, dass es noch am gleichen Tag abgeholt würde, was auch ohne Widerrede geschah. 

Meine Familie stellte diesbezüglich keine weiteren Fragen und ich erzählte keine Einzelheiten über den verhängnisvollen Fortgang des vorherigen Abends. Nur mein Mann zog beim Abendessen erstaunt die rechte Augenbraue hoch, als er auf dem Fensterbrett das Einmachglas mit dem Seetang, dem Stachelrochen und der kleinen Meeresschildkröte stehen sah.

....zurück zur Startseite